
Die Zukunft der Ernährung
Im Juni hat der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik und Ernährung (WBAE) Bundesministerin Klöckner ein Gutachten vorgelegt, das erheblichen politischen Zündstoff enthält. Der Vorsitzende des Beirats, Prof. Harald Grethe von der Humboldt-Universität Berlin, sagt bei der Vorstellung der Studie: „Es geht um einen politischen Paradigmenwechsel ( … ) die gegenwärtige Gestaltung unserer Ernährungsumgebungen macht es Konsumenten und Konsumentinnen zu schwer, sich nachhaltig zu ernähren. Wir benötigen stärkere politische Steuerungsimpulse für die Unterstützung nachhaltiger Konsumentscheidungen.“ Dabei betont er ausdrücklich, dass wir in Deutschland hinter europäischen und teilweise sogar internationalen Standards hinterherhinken. Er spricht unter anderem davon, dass viele politischen Steuerungsimpulse ungenutzt blieben und verweist auf die Bedeutung der Ernährung für die Nachhaltigkeitsziele, für die sich die Bundesregierung international verpflichtet hat. „Es sind nicht nur Anpassungen in der Produktion notwendig, vielmehr müssen sich auch die Konsumgewohnheiten ändern.“ Welche Punkte für ein solches Umdenken zu berücksichtigen sind, möchte ich Ihnen im Folgenden vorstellen.
I. Die vier Krisenherde der Nachhaltigkeit
Gesundheit, Soziales, Tierwohl und Umwelt nennt man die „Big Four“ einer nachhaltigeren Ernährung. Ausgehend von diesen Punkten hat das Gutachten die gesellschaftlich weit verbreiteten Ernährungsempfehlungen beurteilt und konstatiert, dass es zwischen den vier Zielen sowohl Synergien als auch Zielkonflikte gibt, die in der Gesamtempfehlung viel stärker berücksichtigt werden müssten.
Beim Ziel Gesundheit stehen wir in Deutschland laut den Autoren sehr mittelmäßig da, gemessen an unserem Wohlstand. Bei Soziales weisen sie auf Probleme der (ausländischen) Saison- und Leiharbeiter*innen in Landwirtschaft, Schlachtindustrie und Gastronomie hin. Global sehen sie Zwangsarbeit, Kinderarbeit und andere systematische Verletzung von Arbeitnehmer*innenrechte als zu wenig berücksichtigte Aspekte. Bezogen auf die Umwelt nennen sie eine hochgradig gefährdete Biodiversität, Überdüngung der Böden und Freisetzung von Treibhausgasen durch Tierhaltung sowie Lebensmittelverschwendung. Zum Thema Tierhaltung schreiben sie: „( … ) Eine umfassende, von politisch legitimierten Entscheidungsträger*innen verabschiedete Strategie, die auch die Finanzierung des notwendigen Umbaus der Nutztierhaltung umfasst und damit größere Fortschritte ermöglicht, fehlt bisher.“
Die Autoren des Gutachtens verweisen auf die grundlegende Schwierigkeit, die Frage, was denn eine nachhaltige Ernährung ausmache, eindeutig zu beantworten. Gleichzeitig betonen sie, dass viele Konsument*innen in einer Ernährungsumgebung leben, in der eine nachhaltigere Ernährung schwierig ist. Unter Ernährungsumgebung verstehen sie z.B. große Portionsgrößen in der Gastronomie oder auch hohe Werbeausgaben beziehungsweise sehr niedrige Preise für ungesunde Lebensmittel.
II. Der unterschätzte Faktor
„Ernährungsumgebung“
Der Einfluss der Ernährungsumgebung, die das Konsum- und Essverhalten entscheidend prägt, ist wesentlich weitreichender und umfassender, als dies derzeit von politischen Entscheidungsträgern anerkannt wird. Er erstreckt sich laut Wissenschaftlern auf den gesamten menschlichen Verhaltensprozess. Sie unterscheiden dabei die „fünf W’s“ was, wie viel, wann, wo und mit wem.
Die Exposition (z.B. in Werbung oder sozialen Medien) „( … ) kalibriert unser Wahrnehmungsfeld, heute häufig in Richtung auf Produkte mit ungünstigen Nährwerten (z.B. Fast Food, Softdrinks) und schlechter Klimabilanz.“
Der Zugang wird von Preis, Verfügbarkeit von Informationen und Ess- und Verhaltensnormen (Essenszeiten, Convenience-Aspekte, Portionsgrößen) bestimmt.
Bei der Auswahl sind Marketing und soziale Medien extrem einflussreiche Umgebungsfaktoren. Sie bestimmen die Präferenzen der Konsumenten, neben individuellen Vorlieben oder Gewohnheiten, durch eine Emotionalisierung von Produkten (Status, Popularität, Zugehörigkeit).
Was, wieviel und wie schnell schließlich gegessen wird, hängt von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Neben Qualität, Quantität und Angebot spielt das Ess-Ambiente eine zentrale Rolle: „Die Essumgebung, insbesondere das Ambiente und gemeinsames Essen und Trinken, erfüllen zentrale emotionale und soziale Funktionen. Als wichtigste Erkenntnis aus dem Gutachten ermitteln die Wissenschaftler, dass die individuelle Handlungskontrolle überschätzt und der Einfluss der Ernährungsumgebung in der öffentlichen und politischen Diskussion vollkommen unterschätzt wird. Die Wissenschaftler*innen beklagen u.a., dass die Verantwortung in Deutschland viel zu stark auf das Individuum verlagert ist.
III. Eine verstärkt konsumseitige Politik ist legitim und notwendig
Das Gutachten postuliert ein partielles Marktversagen in der Ernährungswirtschaft, das zu hohen volkswirtschaftlichen Belastungen durch beispielweise ernährungsbedingte Krankheiten führt. Es fordert den Staat auf, stärker in die Konsumsteuerung einzugreifen und stellt fest, dass „( … ) die Analyse des politisch-administrativen Systems zeigt, dass aktive staatliche Ernährungspolitik in der politischen Landschaft eher skeptisch gesehen wird ( … ) Auch sind die Wahlprogramme aller Parteien zurückhaltend hinsichtlich Maßnahmen, die auf eine Steuerung des Ernährungsverhaltens von Erwachsenen hinwirken.“
Die Wissenschaftler*innen schreiben außerdem, „ ‚freie‘ Ernährungsentscheidungen sind in diesem Sinne eine Illusion: Was wir konsumieren und wie wir uns ernähren, ist immer maßgeblich durch die Ernährungsumgebung mitgeprägt.“
IV. Auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Ernährung: Empfehlungen
Die Expert*innen haben eine Reihe von konkreten Vorschlägen mit dem Titel „Neun zentrale Empfehlungen für eine integrierte Politik für eine nachhaltigere Ernährung“ ausgearbeitet:
- Systemwechsel in der Kita- und Schulverpflegung herbeiführen
- Konsum tierischer Produkte global verträglich gestalten
- Preisanreize nutzen
- Eine gesundheitsfördernde Ernährung für alle ermöglichen
- Verlässliche Informationen bereitstellen
- Nachhaltigere Ernährung als das „New Normal“ entwickeln
- Angebote in öffentlichen Einrichtungen verbessern
- Landbausysteme weiterentwickeln und kennzeichnen
- Integrierte Politik für eine nachhaltigere Ernährung
V. Finanzierung einer Politik für eine nachhaltige Ernährung
Die Wissenschaftler*innen entwerfen konkrete Finanzierungsvorschläge, um den Paradigmenwechsel nachhaltig und zukunftssicher zu machen. Hier eine Auswahl:
- Die Abschaffung der Mehrwertsteuervergünstigung auf tierische Erzeugnisse (ca. 4,3 bis 5,0 Mrd. Euro jährlich) sowie die Einführung einer Verbrauchssteuer für zuckerhaltige Getränke (ca. 1,0 bis 1,9 Mrd. Euro jährlich) erbringen staatliche Mehreinnahmen von insgesamt ca. 5,3 bis 6,9 Mrd. Euro pro Jahr.
- Für die staatlich finanzierte Kita- und Schulverpflegung ist von staatlichen Mehrausgaben in einer Größenordnung von ca. 5,5 Mrd. Euro pro Jahr auszugehen.
- Für den Umbau hin zu einer tierfreundlicheren Nutztierhaltung werden staatliche Mehrausgaben in einer Größenordnung von ungefähr 2 Mrd. Euro pro Jahr vorgeschlagen.
- In der Summe für Bund, Länder und Kommunen betrachtet entstehen damit zusätzliche Ausgaben von ca. 9,6 Mrd. Euro pro Jahr. Per Saldo ergibt sich eine Finanzierungslücke von etwa 2,7 bis 4,3 Mrd. Euro jährlich, die durch zusätzliche Steuereinnahmen oder verringerte Ausgaben für andere Politikfelder gedeckt werden müsste und eine Umverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen erfordern würde.
VI. Fazit der Gutachter
„Die vorgeschlagene integrierte Ernährungspolitik mit aufeinander abgestimmten, zum Teil deutlich eingriffstieferen Maßnahmen als bisher stellt einen wichtigen und notwendigen Schritt dar, um unsere Gesundheit, unsere Umwelt und unser Klima zu schützen, Ernährungsarmut zurückzudrängen, soziale Mindeststandards einzuhalten und das Tierwohl zu erhöhen. Faire Ernährungsumgebungen schützen uns alle und nützen uns allen. Die Realisierung der empfohlenen Maßnahmen erfordert erhebliche staatliche Mehrausgaben. Im Verhältnis zu den derzeitigen und zukünftig zu erwartenden hohen gesellschaftlichen und individuellen (Folge)Kosten unserer gegenwärtigen Ernährung stellen diese Mehrausgaben jedoch eine gesamtgesellschaftlich gebotene Investition dar. Eine zeitliche Verschiebung der erforderlichen Neuausrichtung würde sowohl die zu adressierenden Problemlagen als auch den erforderlichen Anpassungsbedarf verschärfen. Die in diesem Gutachten vorgelegte Analyse zeigt: Eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist sinnvoll, sie ist möglich, und sie sollte umgehend begonnen werden.“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Die Herausforderungen sind enorm, will man diesen geforderten Paradigmenwechsel vollziehen. Es braucht den politischen Willen und es braucht geeignete Strukturen, diese Transformation zu schaffen. Dazu haben wir zusammen mit einigen regionalen Akteuren aus der Bio-Szene vor gut einem Jahr eine Genossenschaft mit dem Namen Xäls eG – Ökologische Genossenschaft Neckar-Alb gegründet. Unser Anliegen ist es, die Strukturen einer regionalen Wertschöpfung aufzubauen, um diesen Paradigmenwechsel vollziehen zu können. Bitte unterstützen Sie uns in dieser Arbeit und werden Sie Genossin oder Genosse: Weitere Informationen unter: www.xaels.de oder info(at)xaels.de oder 07071/53926-0